„Eine Sonntagnacht im Frühling auf Lesbos, die Angst macht. Angst, dass Angriffe auf Menschen, die ihr Grundrecht auf Asyl in Anspruch nehmen, zur Normalität werden könnten.“
Die Situation auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln ist seit dem 20. März 2016, mit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens, eine Ausnahmesituation.
Menschen, die Asyl beantragen wollen, werden in ihrem Grundrecht der Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Am 17. April 2018 wurde dies vom höchsten griechischen Verfassungsgericht als verfassungswidrig einstuft.1 Dieser Entscheid wurde kurz darauf von einer anderen Instanz wieder außer Kraft gesetzt, sodass die neu ankommenden Geflüchteten weiterhin keine Möglichkeit haben die Insel zu verlassen.
Aktuell leben über 6’700 Menschen im Hotspot Moria, gebaut für 1’800 Personen. Weitere über 1’200 Menschen, vor allem Familien, leben im zweiten öffentlichen Camp, Kara Tepe. Um die 600 Personen wohnen zudem in anderen Unterkünften, wie zum Beispiel dem nicht offiziellen Camp Pikpa. Im Zeitraum von Januar bis zum 24. April 2018 sind 4’289 Menschen auf der Insel Lesbos angekommen.
Aufgrund dieser unhaltbaren Zustände und dem vermeidbaren Tod eines Mitgliedes der afghanischen Gemeinschaft in der letzten Woche, begonnen die Mitglieder dieser Gruppe am Dienstag, den 17. April einen friedlichen Protest auf Mytilinis Hauptplatz.
Bei der sonntäglichen Militärparade am 22. April kamen lokale Bewohnerinnen und Bewohner aus Mytilini in Solidarität mit zwei vom türkischen Militär inhaftierten griechischen Soldaten zur Prozession. Nach der Parade bewegte sich ein Teil der Gruppe in Richtung der protestierenden Geflüchteten, wo sich ihnen Dutzende weiterer Menschen anschlossen. Die Polizei formte sofort zwei Linien zwischen den Geflüchteten und den Menschen auf der anderen Seite des Platzes.
Was dann passierte ist in unseren Augen eine Schande und deutlich zu verurteilen:
Die, zumeist wohl Mitglieder von einer extrem-rechts orientierten Gruppierung3 und Hooligans,4 fingen an, die friedlich demonstrierenden Asylsuchenden zu attackieren.
Diese formten rasch einen Kreis, um in dessen Mitte Frauen und Kinder mit aufgespannten Decken zu schützen.
Die Attacke zeigte sich folgendermaßen:
- Es wurden über Stunden hinweg Leuchtfeuer, Flaschen und Steine auf die Geflüchteten geworfen.
- Flaschen wurden mit Benzin gefüllt, halb verschlossen und in die Menge der Geflüchteten geworfen, gefolgt von Feuerwerkskörpern.
- Es wurde lauthals „Verbrennt sie lebendig“ gerufen.Große Müllcontainer wurden in Flammen gesetzt und in Richtung der Geflüchteten gestoßen.
- In halb-verschlossene Flaschen gefülltes Tränengas wurde auf die Geflüchteten und die Mitarbeitenden von internationalen Organisationen geworfen.
- Menschen, die den Platz verlassen wollten, da sie medizinische Hilfe benötigten, wurden weiterhin attackiert.
- Afghanische Familien und Kinder verließen den Platz, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie mussten sich stundenlang an verschiedenen Orten verstecken, teilweise mit ausgeschaltetem Licht, da die Rechtsradikalen durch die Straßen patrouillierten.
Die Polizei versuchte die Angreifenden auf Distanz zu halten, war dabei jedoch zu zögerlich und ließ zu, dass mehrere Angreifer die vermeintlich schützende Polizeireihe durchbrechen und die friedlichen Demonstranten attackieren konnten. Auch wurden die Angreifer nicht außerhalb der Wurfdistanz zurückgedrängt, wodurch dutzende Geflüchtete kleine bis schwere Verletzungen erlitten. Es schien, als ob sie schlussendlich einen Deal mit den Attackierenden ausgehandelt hatten: Nachdem die Polizei mit den Angreifern sprach, warteten diese ruhig am Ende des Platzes, während die Polizei um ca. 5:30 morgens die Geflüchteten mit Gewalt in einen Bus führte und unter Arrest setzte. Zumindest ein Teil der Attackierenden war organisiert. So heißt es, dass 50 von ihnen aus Athen angereist waren, mit dem Ziel die Geflüchteten anzugreifen. Auch eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Mytilene Patriotic Movement II“ und eine Website riefen zur Unterstützung auf.
Somit kann man von zum Teil organisierter Gewalt gegenüber Geflüchteten ausgehen, welche über die Stunden der Attacken hinweg keine Gegenangriffe zeigten. Selbst als weitere Geflüchtete anderer Gemeinschaften zur Unterstützung kamen, wurden sie vom Leiter des friedlichen Protests darum gebeten keine Gewalt anzuwenden.
Weitere Details von Menschen vor Ort: Chronicles of the night.
Dies ist nicht das erste Mal, dass Gewalt gegenüber Geflüchteten auf der Insel Lesbos ausgeübt wurde. Dennoch ist es das erste Mal, dass mehrere Hundert Menschen über Stunden hinweg Geflüchtete attackierten – all das ohne deutliche Reaktionen oder Maßnahmen von Seiten der Polizei. Die Geflüchteten (120 Personen) sowie zwei Personen einer lokalen Solidaritäts-Gruppe wurden verhaftet und angeklagt. Der Gerichtstermin wurde für den 9. Mai 2019 (!) festgelegt.
Inzwischen wurden 17 der Angreifer von der Polizei identifiziert, 5 von ihnen stammen aus Lesbos und haben mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen. Die Menschen, die auf Lesbos festsitzen und diese Nacht erleben mussten, bedanken sich bei Ihnen für Ihre Berichterstattung.
Im Namen des Teams
Henrike Bittermann und Fabian Bracher
Bild: Ekathimerini