“Good morning my friend.” My friend, das sind die ersten Wörter, die man auf Englisch lernt, wenn man in Moria lebt. So wie Mina, die Afghanin, die jeden Morgen an meinem Bankschalter steht. Also, Bankschalter ist übertrieben. Es ist ein halb kaputter Laptop aus dem Jahr 2001 und eine Metallkiste mit Spielgeld-Drachmen drin. Bloß, dass das Spielgeld tatsächlich etwas wert ist: Ein Tschai eine Drachme, ein Pulli zwei Drachmen. Mina bekommt zwei Drachmen von mir, wie jeden Tag, so lange sie ein Flüchtling in dem Lager auf Lesbos ist, dessen Name so klingt wie das böse Reich eines Tolkien-Romans: Moria. So ähnlich stelle ich es mir dort auch vor, nur ohne das rote Auge und die Orks. Dafür mit willkürlichen Militärs. “I’m sorry, I don’t have my Ausweis with me”, sagt Mina – Ausweis, das erste Wort, das man auf Deutsch lernt, wenn man ihn braucht, um Drachmen zu bekommen. “Ach, Mina, no Ausweis, no Drachma”, sage ich scherzhaft. Nach zwei Wochen kenne ich sie inzwischen, sie weiß ihre Ausweisnummer auswendig, ich habe ihn schon zehn Mal gesehen. Sie grinst und fragt mich, wo ich eigentlich herkomme. Aus Deutschland? “Ah, Angela Merkel, she’s very good.” Angela Merkel, die erste europäische Politikerin, die man kennt, wenn man auf Asyl hofft. Ich habe es aufgegeben zu erklären, dass sie eigentlich eher konservativ ist und eine Obergrenze einführt, die sie nicht so nennt, und dass eine linke Regierung vielleicht mehr täte. Es glaubt mir eh keiner.
Heute ist mein letzter Tag hier. “One Happy Family” heißt das allein auf Privatspenden basierende Community Center, das den Flüchtlingen von Moria ein bisschen Menschenwürde zurückgibt. “One Tired Family”, sagt Shaheer, einer der Freiwilligen aus den Reihen der Flüchtlinge, er ist 21 und wartet seit einem Jahr auf den blauen Stempel, um die Insel verlassen zu dürfen. “Ey Malaka, machst du noch die Bank?”, ruft er mir zu, als ich Mina ihre Drachmen gegeben habe. Malaka, das erste griechische Wort das man lernt, wenn man in einem militärgeführten Lager lebt. Wer es bei One Happy Family sagt, meint das Gegenteil.
“Nee, ich bin fertig”, antworte ich und schließe die Bank, also den Laptop, dessen System ohnehin schon seit fünf Minuten geschlossen hat. Oder seit 2001, genaugenommen. “Gut”, antwortet Shaheer und hilft mir, die Bank ins Büro zu tragen. “Dann kannst du mir ja jetzt mal das mit der AfD erklären. Warum mögen die uns nicht?” “Puuh”, stoße ich ratlos aus und überlege, ob es eine Antwort gibt. Also eine, die ich ihm geben kann. Oder überhaupt irgendeine sinnvolle. “Weil sie dich noch nicht kennen, Shaheer”, antworte ich schließlich. Er lacht sein halbironisches Lachen, er ist klug und weiß, dass es keine guten Antworten gibt. Es ist mein letzter Tag und ruhig heute, wir haben Zeit für Unterhaltungen und Tschai und ein bisschen Hoffnung.
“Pass auf dich auf, Malaka”, sagt er zum Abschied, obwohl er das nötiger hat als ich. Am Ende des Tages werde ich in einer luxuriös ausgestatteten Fähre nach Athen sitzen, und er wird zurück in das 20-Quadratmeter-Appartment gehen, wo er mit vier Freunden auf dem Boden schläft, weil das besser ist als Moria. “Du auch, Malaka”, antworte ich. Aber eigentlich meine ich: “Wir sehen uns in Deutschland, Habibi.” Habibi, das erste Wort auf Arabisch, das man lernt, wenn man Teil der Familie wird.
Artikel von Jesko, er war im Herbst 2017 Volontär im OHF.
Publiziert im Blitz-Stadtmagazin: https://blitz-world.de/halle/hal-kol.htm
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